
Geisshorner

Als Escholzmatt im frühen Mittelalter noch im Besitz des Benediktinerklosters Trub war, stand auf dem Hinterknubel eine stattliche Burg. Das umliegende Gebiet wurde landwirtschaftlich genutzt. Ein Jüngling namens Alardus war für das Wohl der Geissen verantwortlich. Er war sehr zuverlässig und er liebte seine Arbeit. Als Geissenhirt trieb er die Ziegen täglich auf die Weide. Er führte sie vom Hinterknubel über den Schwendelberg bis zum Vordergraben zu den besten Kräuterwiesen. Sein ständiger Begleiter war ein kunstvoll verarbeitetes Kuhhorn. Auf diesem spielte er vorzüglich. Seine Mitmenschen hörten gerne seinen Weisen zu. Die Ziegen verstanden den Klang seines Hornes gar so gut, dass sie ihm stets gehorchten und zur Melkzeit immer wieder zum Stall zurück kamen. Die Leute im Dorf nannten Alardus daher nur noch den Geisshorner.
Zur gleichen Zeit alpte auf dem Schafberg an der Beichlen ein eigensinniger, reicher Mann namens Thietmarus seine Schafe. Jeden Sommer verlor er einen grossen Teil seiner Herde, weil die Tiere sich verlaufen hatten oder abgestürzt waren. Er war aber zu geldgierig, um einen jungen Hirten anzustellen. Hätte er diesem doch eine Bleibe, Speis und Trank und ab und zu einen Heller gewähren müssen. Thietmarus hatte eine hübsche Tochter die Gurda hiess. Als ihm eines Tages auch noch das beste Mutterschaf beim Lammen zu Tode kam, rief er Gurda zu sich: „So kann es nicht weitergehen. Ich will dass du mir den Geisshorner auf den Schafberg holst!“
In der Fasnachtszeit hatte Alardus nicht den ganzen Tag zu arbeiten und war ab und zu in der Dorfschenke anzutreffen. Seine freundliche und zuvorkommende Art kam auch bei den Herren gut an und er wurde von ihnen oft zum Essen eingeladen. Nach dem reichlichen Speisen, kamen die Gaukler und Narren auf ihre Rechnung und das ganze Volk feierte und tanzte bis in die frühen Morgenstunden. Auch Gurda war da um Alardus zu begegnen. Als sie ihm gegenüberstand, versuchte sie ihn mit allen Mitteln zu überzeugen, im nächsten Sommer für ihren Vater die Schafe zu hüten. Der Geisshorner jedoch wollte und konnte seinem Herrn von der Burg auf dem Hinterknubel nicht untreu werden. Die ganze Dorfbevölkerung stand hinter Alardus` Entschluss, denn er war ihnen mit seinem freundlichen Gemüt und seiner lieblichen Musik sehr ans Herz gewachsen. Gurda liess jedoch nicht locker und versucht ihr Glück bei jeder Gelegenheit von neuem.
An einem kalten und grauen Dienstagnachmittag vor Aschermittwoch waren Gurda und Alardus wieder gemeinsam in der Dorfschenke. Gurda schäkerte mit Alardus und alle Anwesenden erwarteten seine übliche heftige Ablehnung ihrer Bitte. Wie wunderten sich alle, als der Geisshorner nachdem er seinen Becher Met ausgetrunken hatte plötzlich aufstand und der hübschen Gurda wie ein Schlafwandler folgte.
Gurdas Vater Thietmarus war mit seiner Tochter äusserst zufrieden. „Aber was gedenkst du zu tun, wenn Alardus vom Schafberg fliehen will?“, fragte ihn Gurda. Thietmarus antwortete: „Lass das meine Sorge sein. Ich weiss, wie ich das verhindern kann.“
Als Alardus am nächsten Morgen erwachte, merkte er, dass etwas nicht stimmte. Er schaute sich in der unbekannten Kammer um und stellte sofort fest - sein Horn war nicht mehr da. Er trat aus dem Zimmer und suchte den Weg nach draussen. In der alten Hütte schien er allein zu sein. Er horchte an der nächsten Tür und als sich nichts regte, öffnete er diese. Sofort fiel sein Blick auf einen alten, knorrigen Tisch. Dort lag sein Horn. Mit grossen Schritten ging er auf den Tisch zu, packte sein geliebtes Horn und trat dann sofort hinaus an die frische Luft. Der Himmel war blau und die ersten Sonnenstrahlen versprachen einen schönen Wintertag. Nun wurde ihm bewusst, dass er sich auf dem Schafberg befand. Er sah hinunter auf das Dorf und erblickte die Burg im Hinterknubel. Dort gehörte er hin, das war sein Zuhause. Dieser Anblick entzückte ihn sosehr, dass er vor Freude kräftig in sein Horn blies. Doch was musste er da vernehmen: so einen schrecklichen Klang hatte er selbst zuvor noch nie gehört. Er versuchte es ein zweites Mal. Jetzt ertönte sein Horn noch fürchterlicher als zuvor. Diesen entsetzlichen Lärm vernahm nun auch Thietmarus. Vor Wut schnaubend stapfte er fluchend zu Alardus und schrie ihn an: „Höre auf, auf deinem vermaledeiten Horn zu blasen. Das hält weder Mensch noch Tier aus!“ „Aber“, entgegnete Alardus und wollte sich rechtfertigen, als ihm Thietmarus ins Wort fiel: “Sei still und wenn du noch einen Schritt weiter gehst, sollst du dein Leben lang eine Fratze haben, damit dich kein einziger Mensch mehr anschauen mag!“ Alardus erschrak so sehr, dass er einen Schritt zur Seite trat.
Sogleich zogen schwarze Wolken auf, es wurde dunkel und es begann zu stürmen. Ein Blitz folgte dem andern, die Donner krachten, Schneegestöber setzte ein, es war ein Graus. Der Schafstall und die Hütte schienen vom heftigen Wind geradezu aus den Fugen zu geraten, die verängstigten Schafe rannten aus dem Stall, hinaus in alle Himmelsrichtungen.
Dann plötzlich, wie von Geisterhand, verzog sich das fürchterliche Gewitter nach wenigen Minuten. Der Himmel war wieder blau, die Sonne schien und es wurde ein schöner Wintertag.
Sie alle wurden seit diesem Tag nie mehr gesehen, Alardus, Thietmarus, Gurda und auch die Schafe.
Immer wieder haben die Kinder nach dem Geisshorner und seinem Horn gesucht, aber gefunden haben sie ihn bis heute nicht. Lediglich eine kleine Glasflasche mit mystischen Zeichen und der Aufschrift: „für 850 Jahr myn“ wurde am Aschermittwoch 1160 am Vormittag in der Nähe der Dorfschenke gefunden…